Hallo Roland;

Am Dienstag, den 08.10.2019, 09:56 +0200 schrieb Roland Hummel:
> 
> Deswegen sollte es so langsam auch nicht mehr "<proprietäre Lösung>
> oder XMPP" heißen, sondern "<proprietäre Lösung> oder <freie Lösung,
> die nicht XMPP ist>". Das muss ja nicht unbedingt Matrix sein,
> sondern auch Mattermost oder RocketChat.
> 

Ok, dann haben wir dort Konsens. Ich fand XMPP immer gut, aber dort
fehlt(e) seit jeher der Fokus darauf, ein nutzbares "Produkt" zu
liefern. Das merkt man mindestens den Clients für faktisch alle
Plattformen außer Android und Linux (wenn einem Dino stabil genug ist)
an.

 
> Dass freie Lösungen den proprietären Lösungen in der Akzeptanz
> deswegen hinterherhinken, weil sie auf bestimmte Bedürfnisse
> schlecht, gar nicht oder zu spät eingehen, mag in der Diagnose auf
> den ersten Blick stimmen, berücksichtigt aber nicht das Problem, dass
> unser Wirtschaftssystem nicht *reagiert*, sondern diese bewusst
> *herstellt*. Das meinte ich mit "induzierter Bequemlichkeit": User
> werden bewusst so erzogen, dass sie unfreie Lösungen bevorzugen. 

Obgleich Du ein Stück weit recht hast, lass es mich kurz bewußt hart
formulieren: Genau diesen Punkt nutzen wir, wie mir scheint, auch gern
als Ausrede, um uns mit diesem Thema nicht auseinandersetzen zu müssen,
mutmaßlich wohl auch, weil es die Aufgaben komplizierter werden läßt an
Stellen, an denen sie keinen Spaß mehr machen. Es ist leicht, auf der
grünen Wiese einen neuen Client mit der aktuell gerade als "hip"
einzustufenden Technologie hochzuziehen. Es ist unendlich viel
schwerer, so ein Werkzeug mittelfristig / strategisch zu einem Tool
werden zu lassen, das im Blick auf Usability, Stabilität, Verfügbarkeit
so poliert ist, daß es auch jemand mit wenig bis keiner Computer- oder
Technologie-Erfahrung damit arbeiten kann oder will.

Gegenschluß: Ich habe Leute in der Verwandtschaft (Generation 70+), die
mit Computern nie ihren Frieden hatten, die Dinger allenfalls
dienstlich auf dem Schreibtisch genutzt und dort eher geächtet hatten.
Diese Leute haben jetzt Smartphones zu Hause, auf denen sie
eigenständig komplett ohne die Hilfe der "Wissenden" in der Familie
WhatsApp, Facebook, Instagram installiert und aktiviert bekommen, sich
mit Leuten digital vernetzen, die sie vorher nie und nimmer erreicht
hätten. Das hat nix mit induzierter Bequemlichkeit unfreier Lösungen zu
tun. Das ist eine digitale Selbstständigkeit, die sie mit keiner(!)
freien, dezentralen Lösung jemals zu erreichen imstande wären. Mit XMPP
oder auch Matrix hätten sie (a) immer die Abhängigkeit von einem
Experten, der ihnen das einrichtet und pflegt - was nervig ist, wenn
der Client im Urlaub "kaputtgeht" und der Neffe, der das heilen kann,
500km weit weg ist, und (b) dann immer einen deutlich eingeschränkten
Kontaktkreis, weil aus ihrer Freundes- und Kontaktliste diese Dienste
niemand nutzt. So lang nicht mindestens letzteres Problem befriedigend
gelöst ist, ist hier eine extrem breite Zielgruppe, für die Anwendungen
außerhalb der Walled Gardens praktisch nutzlos sind.


> Ich habe das an mir selbst beobachten
> können, weil ich in der Prä-Snowden-Ära (also bis Mitte 2013) selbst
> alles genutzt habe, was der Markt an proprietären Lösungen hergab.
> Der Wechsel kam einer Selbst-Amputation meiner digitalen Gliedmaßen
> gleich, nur um dann festzustellen, dass ich diese eigentlich nie
> gebraucht habe[...]

Das ist eine (leider) sehr individuelle Beobachtung, die ich mir hier
manchmal wünschen würde, aber nie habe. So eklig es ist: Die
überwiegende Mehrzahl der Menschen in meinem Umfeld nutzt WhatsApp.
Punkt, Ende. Ein paar Enthusiasten verwenden Signal, einige Threema,
einige Wire. Ansonsten hat WhatsApp hier SMS ersetzt. E-Mail war in
meinem Umfeld ohnehin nie ein relevantes Medium und eher mit Brief
gleichgesetzt. Deswegen hb ich hier leider eine andere Sicht.


> 
> Okay, aber so können wir das Kapitel "Rest-Föderalismus im digitalen
> Raum" völlig begraben. Die Lösung für die großen digitalen Fragen
> heißt meiner Meinung nach nicht "*weniger* Föderalismus durch freie
> Software", sondern "*mehr* Förderalismus durch freie Software" (ja:
> die auf den funktionalen Bedarf, sei er gerechtfertigt oder nicht,
> adäquater reagiert). 
>

Ich sehe das Problem nicht, ehrlich gesagt. "Software" und "verfügbarer
Service" sind zwei paar Schuhe, und der robuste 24x7-Betrieb eines
Stücks Software ist eine gänzlich andere Herausforderung als das
"Ausprogrammieren" von Code. Warum sollte man das nicht getrennt
betrachten? Ich *will* FLOSS und offene Standards. Ich *will* auch
Förderation, weil ich eigentlich keine "walled gardens" möchte. Aber
ich *will* auch eine Möglichkeit, mir so eine Lösung einkaufen zu
können, ohne das Wissen, die Prozesse, die Ressourcen (Leute, Hardware,
...) im Haus vorhalten zu müssen. Aus meiner Sicht ist es ein
Kardinalfehler, daß wir als Alternative zu Cloud-Diensten nur
"selbstbetriebene Freie Software" sehen, uns scheinbar aber die
Fantasie zu "ethisch und professionell gehosteter Freier Software"
fehlt. 

Viele Grüße,
Kristian

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